von Risto Rieger
Sonntag, 10 Uhr morgens. Ich liefere Wein aus. Um 23.30 Uhr des Vorabends erreicht mich seine Benachrichtigung via WhatsApp, es wäre dringend, private Gesellschaft, sorry für die späte Nachricht, ob das ginge? Ich antworte nicht.
Um 10.15 Uhr bin ich da. Er, der Chef, Restaurantleiter oder was auch immer, verschlafen, ungeduscht, wortkarg. Acht Kartons, ich schleppe sie einzeln, nacheinander in Zeitlupentempo, der verdammte Rücken schmerzt, ich kann das nicht mehr, so wie früher. Er hingegen hockt einfach nur da, draußen, sieht mir zu, raucht und glotzt in seiner gesamten Schlichtheit in sein MacBook Air.
„Cool, danke“. Immerhin, er bedankt sich ungefragt mit einem Gläschen Ulysse Collin „Les Perrieres“. Vermutlich der Rest aus einer Flasche vom letzten Abend. Um 10.30 Uhr?, was soll’s, scheiß drauf denke ich mir und schütte es auf nüchternen Magen die Kehle hinab, ein zweites hinterher, diesmal nicht ungefragt, Tschick dazu. Ich könne gerne vorbeikommen am Nachmittag, es sei zwar privat, aber egal, ich würde sicher jemanden kennen. Ja, mal sehen sage ich und gehe ohne mich zu verabschieden.
Nachmittag, immer noch Sonntag, ich sitze am Ufer des Kanals und lese in Paul Nizons „Canto“, schaue aufs trübe, stehende Gewässer, Enten, ein Schwan, schaue in den weiß-blauen, bayrischen Himmel, schaue den Jogger*innen hinterher, den jungen, feingliedrigen, fast schwebenden Damen mit ihren ästhetisch durchaus ansprechenden Konturen in engen Funktionspants, ihr vorbeifliegender, zarter Duft nach frischem Schweiß, darunter mischen sich auch plumpe, übergewichtige, wabbelige Läuferinnen, ebenso in hautenger Funktionsbekleidung, aber mit deformierten, hängenden, quallenartigen Konturen, nicht zerbrechlich, eher Sackhüpfen als dahin schweben, unbeholfen aber hoffnungsvoll.
Durchtrainierte Poser, gebräunte Joggertypen, nebst fetten, trampelnden und schwitzenden Kerlen mit hochroten Köpfen und leidender Mine, allerdings durchaus ambitioniert, wenn man einen Blick auf deren Equipment schweifen lässt. Hunde, Typen mit Hunden, Pärchen mit Kindern und Hunden, verdammte Pärchen, ich kann Pärchen nicht ertragen.
Sie kommt heute nicht, oder sie war schon da, oder sie lief an mir vorbei und hat mich nicht gesehen, oder sie wollte mich nicht sehen, oder sie ist raus auf’s Land gefahren, mit Freunden, einen Freund hat sie nicht soweit ich weiß. Sie, mit ihrem Hund. Man sieht sie nie ohne ihren Hund. Sie wohnt am Kanal wie auch ich und es ist nicht gänzlich abwegig, sie dort mit ihrem Hund anzutreffen. Eine alte unerfüllte Liebe, sie ist bezaubernd noch immer, vermutlich das hübscheste, klügste und eloquenteste Mädchen, das ich jemals traf. Ich lies sie damals stehen, oder sie mich?, warum weiß ich nicht, oder ich will es nicht mehr wissen. Jetzt wird es vermutlich zu spät sein. Ich könnte sie einfach anrufen, tue es aber nicht.
Gemeinsam vormittags aufwachen, wieder einschlafen, frühstücken auf dem Balkon, Champagner, lesen auf der Couch, spazieren gehen am See, auf einen Drink gehen, in die Ausstellung, eine Kleinigkeit zusammen kochen, sich gemeinsam in den Rausch trinken, ganz normale Dinge eben, die jeder tut an einem Sonntag.
Noch immer Sonntag, endlich Abend, endlich neigt sich dieser Tag dem Ende zu, endlich Wein, endlich Alkohol, endlich nicht mehr Denken müssen. Um mich über die Unbill dieses Tages hinwegzutrösten, noch kurz im neuen Pop-up eines bekannten Weinhändlers vorbeischauen, gesehen werden und den üblichen Nonsens-Talk über sich ergehen lassen. Szenegrößen, Weinmenschen, Wichtigtuer, „Adabeis“, Unsympathen verschieden großen Ausmaßes, schöne Menschen und solche, die sich dafür halten.
Die Stimmung ist ausgelassen, gelöst, fröhlich, die postmoderne Gesellschaft urbaner Millieus ist gerne ausgelassen und fröhlich, besonders im Sommer, im Freien, betört von der Leichtigkeit des sich anbahnenden Berauschtseins. Stimmengewirr, ein Grundrauschen aus affektiertem Gelächter, Gackern, Stöhnen, klirrenden Gläsern, weiter entfernt hört man sie kreischen. Er hingegen, nicht minder unangenehm, stellt sich durch zu lautes Lachen und Zuprosten ins Rampenlicht, gibt sich betont gelöst vom abfallenden Stress seines Tages. Ein dichtes Gedränge sich fallenlassender, schwitzender Körper mit ambitioniertem Mitteilungspotenzial. Ein Potpourri unzähliger Düfte aus Schweiß, frisch geduschten und parfümierten Menschen, Alkohol und Zigarrenrauch wabert durch die Weite des Raums. Man wird vorgestellt, man stellt sich vor, auch jenen, die man bereits kennt. Namen sind ohnehin Schall und Rauch. „Hi, ich bin die…“ ich verstehe ihren Namen nicht, was auch bedeutungslos ist, denn ich wusste ohnehin, wer sie ist. „Wir kennen uns von damals, aus dem Laden, du warst die Organisatorin der…“, sie versteht kein Wort von dem, was ich sage. Sie erwidert, „Nein, ich arbeite für…“. Was auch immer, ich verstehe kein Wort von dem, was sie mir mitteilen will. Sie lächelt, wie man gelernt hat zu lächeln bei derartigen Zusammenkünften. Shakehands hier und da, ich fühle mich auf eine merkwürdig distanzierte Ebene versetzt, so, als würde man all dies von einem anderen postapokalyptischen Ort aus beobachten, einem Ort der Stille, wie ein Wiedergänger, der scheu interagiert mit dieser ausgelassenen Meute, eher aus Höflichkeit oder vielleicht Verzweiflung. Willst du noch von diesem oder jenem Wein kosten? Nein, danke. Ich will nichts trinken, ich muss gehen. Warte, bleib noch kurz, ich möchte dich unbedingt noch mit (Name beliebig) bekannt machen. Ich bleibe physisch anwesend, mein Geist hingegen hat sich inzwischen von diesem grotesken Schauspiel verabschiedet. Umarmungen hier, Bussibussi dort, immer lächeln, immer nippen und über die Schulter spucken. Mentale Erschöpfung macht sich breit, das Gackern und Gurren, das permanent aufgesetzte Lächeln und Reden im dumpfen, lethargischen Purgatorium des Nachtlebens.
Die Sehnsucht nach dem anderen verführerischen Ort, dem Ort der Stille.