Beirut. Eine Topografie der Kontraste
Special-Report Foreign-Desk. Von Gerhard Ziegler
Der Anflug auf Beirut ist eine Übung in Relativität. Von Larnaka sind es 25 Minuten. Keine Zeit, um ernsthaft zu steigen; keine Zeit, um zu vergessen, dass man fliegt. Der Kaffee kommt, kaum serviert, schon sinkt der Airbus wieder Richtung Mittelmeerküste. Am Boden: Tarnmuster, Checkpoints, ein Visa per Augenaufschlag – der Beamte fragt nach dem Hotel, stempelt, weiter.
Der Weg vom Flughafen durch die morgendlichen Straßenschluchten der Stadt: ein zähes Gleiten durch aufgeblähte Verkehrsadern. Die Architektur oszilliert zwischen gewölbter Postmoderne, französischem Erbe, Ruinenresten und sporadischem Leerstand. An der Autobahn: links ein übergroßer Khamenei, der iranische Religionsführer der Schiiten, der auch hier Ansage macht, rechts dann eine Lippenstiftwerbung mit entblößtem Dekolleté. Sie lächeln sich an – eine Allegorie auf den Zustand der Stadt. Noch ist der Libanon nicht verloren.
Das Hotel am Meer hat den Namen “Palm Beach”, Strom gibt’s in Intervallen, die Aussicht auf Marina und Möwen ist konstant. Beirut riecht nach Großstadt und Salz, singt exotischer als jede mitteleuropäische Taube. An der Marina: internationale Cafés, wenige Yachten, klare Ordnung. Der Espresso bei Paul kostet so viel wie ein Espresso in Zürich.
Zwischen Hochplateau und Halbwelt
Der Ausflug ins Beqaa-Tal, das grüne Herz hinter den Bergen, ist eine Reise durch Zonen. Die ersten Kilometer: verhangene Gipfel, Regen in den Wolken. Die Straße führt über Kontrollposten mit blechernen Wachhäuschen, weiß-rot bemalt. Hupen ersetzt hier den Blinker. Der erste Halt: eine alkoholfreie Raststation mit ISO-Zertifikat und Manousheh. Tee statt Arak.
Dann plötzlich: eine Brauerei. “Beirut Beer”. Eine industriell saubere Anlage mit deutscher Technik. Fotografieren verboten, man versteht warum. Junge Frauen im Hijab kontrollieren die Abfüllanlage, der Braumeister doziert auf arabisch am Touchscreen. Verkostung: Bier, wie man es auch in Köln oder Linz bekommen könnte – wenn auch nicht unter Plakaten von Mullahs.
Die Straße führt weiter durch Flüchtlingslager und Plakatlandschaften. Dann wie aus dem Nichts: Château Ksara. Ein Weingut, wie aus einer französischen Winzerfantasie gefallen. Der Empfang charmant, die römischen Kellergewölbe eindrucksvoll, der Stromausfall inklusive. Verkostet wird Merwah (nussig, apfelig), ein Rosé, der nach Vermentino schmeckt, ein klassischer Cabernet. Man kennt das. Die Cuvées? Viel Holz, viel Kraut. Im Detail:
Château Ksara Blanc de Blancs 2023
Klar, fast kristallin, mit einer Nase aus weißen Blüten, grünem Apfel und einem Hauch Mandarine. Am Gaumen frisch, aber nicht nervös – ein Weißwein, der seinen Mittelmeerursprung nicht verleugnet, aber französisch bleiben will. Das Finale: zurückhaltend, fast höflich.
Le Prieuré 2022
Ein Roter für jeden Tag, wenn die Tage lang genug sind. Fruchtig, leicht gewürzt, mit Anklängen von reifer Kirsche und einem Schimmer Zimt. Kein Wein, über den man diskutieren muss. Stört nicht, wird nie intellektuell, aber schmeckt einfach, einfach und gut.
Cabernet Sauvignon 2021
International bis zur letzten Gerbstoffader. Dunkel, mit Cassis, schwarzer Olive und viel Holz. Der Auftakt wuchtig, der Nachhall trocken, ein Wein wie ein Statement – aber eines, das man schon oft gehört hat. Technisch sauber, emotional sparsam.
Réserve du Couvent 2021
Der Klassiker. Cuvée aus Syrah, Cabernet und Cabernet Franc. Pfeffrig, stoffig, mit dunkler Beerenfrucht und feiner Vanille vom Barrique. Ein Wein, der sich anfühlt wie ein gut geschnittener Blazer – sitzt, passt, wärmt. Aber verrät nichts über den Träger. Und eigentlich auch wenig über den Kellermeister
Merwah (Jahr vergessen)
Die autochthone Überraschung. Golden im Glas, mit nussigem Duft, reifem Apfel, getrockneten Kräutern. Am Gaumen eine Textur wie Sandstein – rau, mineralisch, originell. Ein Wein, der nicht jedem gefallen will. Und deswegen der interessanteste Wein des Weinguts ist.
In Anjar dann das “Al Shams”, eine Art Schweizerhaus (eine Wiener Institution) des Libanon. 5000 Sitzplätze, Rummel, Mezze, Arak, Rauch. Spätestens nach dem dritten Teller und dem zweiten Glas sind weitere Weingutsbesuche theoretischer Natur.
Batroun Mountains Winery: Zwischen Stein und Spontanvergärung
Der Verkostungsraum liegt in der historischen Altstadt von Batroun. Zwei unglaublich selbstsichere Mädchen der Winzerfamilie empfangen Gäste und erklären die Weine hier. Man ist stolz auf das, was man macht. Bio, klar. Keine Herbizide, keine Hefe aus dem Päckchen.
Im Glas: ein Chardonnay, spontanvergoren, mit einer Nase von Apfelhaut, nassem Stein, einem Hauch Honigkraut. Am Gaumen kantig, fast ungehobelt – aber charaktervoll wie ein Gespräch nach Mitternacht. Danach ein Merlot: weich, dunkel, balsamisch, nicht ganz frei vom Holz, aber gut eingebunden. Der Cabernet Sauvignon? Klassisch, ohne Schnörkel, fast französisch in seiner Zurückhaltung. Und dann ein Prosecco aus heimischen Trauben, trocken, blitzsauber, mit feiner Perlage und erstaunlich viel Trinkfluss. Kein Zirkus, kein Zucker, einfach Schaumwein mit Selbstachtung.
Die Cuvees? Wieder viel Kraut, wieder wenig Zug – aber nie beliebig. Eher: Suchend, fragend, manchmal ein wenig zu bemüht. Doch immer getragen von der Lust, anders zu sein als die Konkurrenz in Ksara oder Kefraya. Hier will niemand Bordeaux spielen – sondern Batroun erzählen. Doch das ist egal – der Zauber liegt nicht im Glas, sondern im Versuch.
Resilienz, Rauch und Marc Aurel
Auf der Rückfahrt wird gesprochen. Über Leben, Staat, Krisen. Alle hier haben mehrere Jobs, viele Fähigkeiten, keine Illusionen. Der Staat ist Abstraktion, die Wirtschaft privat organisiert. Verluste werden genommen, Hoffnung bleibt pragmatisch. Niemand fabuliert endlos über das Unveränderliche.
Sonnenuntergang über Beirut, gesehen von einer Wohnung über der Stadt. Mokka, Süßes, eine Gottesmutter im Stiegenhaus, Guerilla-Gardening am Hang. Später ein Zitat von Marc Aurel: “Für die Farbe deiner Gefühle bist du selbst verantwortlich.” Der Satz bleibt. Wie Beirut: eine Stadt, die man nicht versteht, aber spürt.