Vorgetäuscht geht es ausschließlich um Gesundheit. Doch das wahre Ziel der “sober-moths”, der Monate ohne Alkohol und Wein, die gerade in unseren Breiten vor allem bei betulich-linksgrünen Bürgerschichten in Mode kommt, ist die absolute Enthaltsamkeit. Die wird von einer evangelikalen, radikal rechten Ordenskirche verlangt und mit Lobbyarbeit weltweit erfolgreich durchgesetzt. Michael Vesely hat recherchiert (der Text erschien zuerst in der Wiener Tageszeitung “Die Presse”)
Am 4. Jänner 2023 veröffentlichte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) einen Report, und der hatte es in sich. “No level of alcohol consumption is safe for our health”, so die Überschrift. Die größte und vermutlich einflußreichste Gesundheitsorganisation der Welt empfiehlt die totale Abstinenz. Und das, obwohl es renommierte Studien gibt, die den Schluss nahelegen, dass Erwachsene, die moderat Alkohol trinken, ein reduziertes Risiko von Herzerkrankungen und Herzinfarkten aufweisen. “Data have emerged that light/moderate alcohol consumption may be protective against cardiovascular disease”, so beispielsweise die Autoren einer Studie der Patras University School of Medicine. Vor allem der mäßige Konsum von Wein in Kombination mit gesunder Ernährung und einem gesunden Lebensstil kann positive Auswirkungen auf die Gesundheit haben und sogar, im Vergleich mit Abstinenzlern, die Mortalität verringern. Die berühmte Mittelmeerdiät eben, oder, wie es im Fachjournal “Advances in Nutrition” heißt: “The epidemiologic evidence on the cardiovascolar disease protection afforded by adherence to the mediterranean diet is strong.”
Wie konnte es passieren, dass sich die WHO, trotz gegenteiliger wissenschaftlicher Hinweise, auf ein apodiktisches Nein festlegt? Dieser Frage ist die englische Journalistin Felicity Carter im Frühjahr dieses Jahres nachgegangen. Ihr im WineBusiness Monthly veröffentlichter Text “How Neo-Prohibitionists Came to Shape Alcohol Policy” liest sich wie das Drehbuch eines Wirtschaftskrimis. In aller Kürze: Die ablehnende Haltung der WHO ist das Ergebnis umfangreichen Lobbying, in dessen Mittelpunkt Movendi International steht, eine Organisation, die 1851 in den USA als Guttemplerorden (Order of Good Templar) gegründet wurde und seitdem strikte Enthaltsamkeit predigt. Mit einem Netz an Instituten, Organisationen und Initiativen verbreiten die Guttempler weltweit ihre Ideen und beeinflußen maßgeblich politische Entscheidungsträger sowie die öffentliche Meinung. Mittlerweile beginnen Konzepte wie Sober Lifestyle, Sober October, Dry January und Dry July, dank intensiver Social Media Kampagnen, auch in Europa zu greifen. Weinhändler melden teilweise erhebliche Umsatzrückgänge in diesen Monaten. Die französische Regierung zahlt Winzern 4000 Euro pro Hektar gerodetem Weingarten.
All das könnte uns hier in Österreich, wo alles etwas länger braucht, vorerst egal sein. Aber tatsächlich stellt die Arbeit von Movendi und Co gerade für die kleinteilige, exportorientierte österreichische Weinszene eine ernst zu nehmende Bedrohung dar. Den Anti-Alkohol Lobbyisten ist es nämlich gelungen, ein einfaches, aber wirkungsvolles Feindbild aufzubauen. “Big Alcohol” heißt das im Englischen. Analog zur Tabakindustrie (“Big Tobacco”) wird der Eindruck erweckt, es handle sich um eine Branche aus großen, übermächtigen Playern. Dass Wein gerade in Europa oft von kleinen Familienbetrieben hergestellt wird, die das Gegenteil eines Industriebetriebs darstellen, wird bewusst weggelassen. Das trifft in besonderem Maße auf Österreich zu, wo die durchschnittliche Betriebsgröße mit 4,5 Hektar im internationalen Vergleich winzig ist. Felicitas Carter über das Framing der Anti-Alkohol Lobbyisten: “There are no artisans, small producers, or vignerons connected to land and history. There is only ‘Big Alcohol.’”
Wein ist ein tief in unserer Geschichte verankertes Kulturgut und mit dem Verzicht würde auch ein Teil unserer Kultur verloren gehen. Ob der Weinbau nun vor 8000 Jahren im Kaukasus oder in Georgien seinen Ursprung hatte, oder ob es doch der biblische Noah war, der den ersten Weinstock pflanzte, ist dabei unerheblich. Wein gehört seit ewigen Zeiten zu unserer Lebensart, und das nicht nur beim katholischen Messritual. Winzer pflegen die Landschaft, erhalten die Kellergassen und sind mit Heurigen und Buschenschanken wesentlicher Bestandteil unseres Tourismusangebotes. Wein wird zudem von der UNESCO als wertvolles immaterielles Kulturerbe anerkannt, ebenso wie die Weinviertler Kellerkultur. Außerdem wird Wein meist in einem anderen Kontext konsumiert als andere alkoholische Getränke. Es macht einen Unterschied, ob ich mit Freunden eine Flasche Naturwein genieße, oder ob ich mich in der Disco bei All-You-Can-Drink zuschütte. Dieser Differenzierung steht jedoch die einfache, und deshalb eingängige Botschaft der Anti-Alkohol-Lobby entgegen: “Jeder Alkohol schadet”.
Aber es gibt auch Lichtblicke. Langsam formieren sich die Gegenstimmen. Im Mai dieses Jahres startete die amerikanische Weinjournalistin Karen MacNeil zusammen mit zwei PR-Profis “Come Together – A Community for Wine” und initiierte den “Come over October”, als Gegenpol zum abstinenten Sober October. Viel wichtiger für uns ist aber, was in Europa passiert. Und auch hier tut sich etwas. Vor ein paar Tagen launchte der Europäische Weinbauverband die länderübergreifende Initiative VITÆVINO, mit der die kulturelle und wirtschaftliche Bedeutung des Weins vermittelt werden soll. Gleichzeitig lädt VITÆVINO Bürgerinnen und Bürger dazu ein, die Unterstützungserklärung zu unterzeichnen und sich aktiv für den Erhalt der Tradition des maßvollen Weingenusses einzusetzen.
Auch wenn das vergleichsweise kleine Bewegungen sind, die sich den weltweit bestens vernetzten Organisationen von Movendi und Co entgegen stellen, so können sie eine Wirkung haben, wenn es ihnen gelingt, die öffentliche Diskussion vom scherenschnittartigen “Jeder Alkohol schadet” weg zu bringen. Moderater Konsum ja, Abusus nein. Weingenuss ja, Komasaufen nein. Statt des eindimensionalen “Wie können wir Alkoholkonsum verbieten?” von Movendi und Co ein differenziertes “Wie können wir Alkoholmissbrauch reduzieren?” Möge die Übung gelingen.
Ressourcen:
WHO Report “No level of alcohol consumption is safe for our health”:https://www.who.int/europe/news/item/04-01-2023-no-level-of-alcohol-consumption-is-safe-for-our-health
Studie über den positiven/negativen Effekt von moderatem/exzessivem Alkoholkonsum:https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S0741832918301873
“Moderation key to alcohol’s potential health benefits“: https://www.hsph.harvard.edu/news/hsph-in-the-news/moderation-key-to-alcohols-potential-health-benefits/
“Mediterranean Diet and Cardiovascular Health: Teachings of the PREDIMED Study”:https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S216183132201211X
“How Neo-Prohibitionists Came to Shape Alcohol Policy”:https://www.winebusiness.com/wbm/article/284944
Come Together: https://www.cometogetherforwine.com
VITÆVINO: https://www.vitaevino.org/de/