Generation Z trinkt keinen Wein mehr. So ganz stimmt das nicht. Aber die Z hat schon vor den Millenials begonnen, dem Exzess eine Absage zu erteilen. Gastautorin Julia Rathjen erklärt warum. Und analysiert sich und ihre Generation punktgenau. Das sollten die Leute lesen, die immer wissen wollten, wie die Generation-Z tickt.
Allerorts Rückgang des Weinkonsums. Pro Kopf in den letzten fünf Jahren etwa 18% weniger. Bei den Jüngeren sogar über 30%. Die Branche ächzt und guckt unverständig ins gar nicht so leere Glas. Wein ist doch ein Genuss, oft auch Luxus, und nicht so asozial wie Vodka-RedBull. All die Feinheiten der Aromen am Gaumen, die Verbindlichkeit der Weinabende – ja ja, geschenkt.
Ich bin Weinhändlertochter, habe lange in der Gastronomie gearbeitet und fine dining was my first love. Ich kenn jeden guten Grund, habe sehr exzessiv gelebt. Und jetzt? Tu ich das, wie es eben viele tun, nurmehr selten. Gründe:
Gesundheitsbewusstsein: Die wachsende Erkenntnis, dass Alkohol – entgegen früherer Annahmen über die vermeintlich gesunden Aspekte des Weintrinkens – schlicht ein Nervengift ist, setzt sich durch. Studien der Harvard Medical School haben mittlerweile eindeutig belegt, dass selbst moderater Weinkonsum mit erhöhten Risiken für bestimmte Krebsarten, Lebererkrankungen und neurologische Probleme verbunden ist. Zig Dokus und sogar EU-Richtlinien, die Warn-Etiketten diskutieren. Das alles macht Druck. Ja, es gibt dem allen auch entgegen lautende Studien – vor allem jene über die so genannte Mittelmeer-Diät, in der Wein eine wesentliche, sogar gesunde Rolle spielt. Aber sie finden wenig Gehör, obwohl staatliche Stellen sie abgenommen, geprüft und publiziert haben. Und sie erscheinen gegen den Zeitgeist machtlos gering.
Noch mehr Druck: Einfach nur in der Welt zu sein ist verdammt viel fordernder als noch am Ende des letzten Jahrhunderts. Die Leistungsgesellschaft fordert Verfügbarkeit und mentale Schärfe, ein Rausch, ein Kater, ist da kontraproduktiv. Bereits kleine Mengen Alkohol beeinträchtigen die Schlafqualität und so die kognitiven Fähigkeiten am Folgetag. “Sober Curious” und “Mindful Drinking” sind in urbanen Milieus keine Schlagworte, sondern Lebensstile. Nüchternheit wird zunehmend mit Authentizität, Klarheit und Stärke assoziiert – sexy Werte in einer chaotischen Welt. Der Markt für alkoholfreie Alternativen ist noch klein, schickt sich gerade aber an zu explodieren. Komplexe alkoholfreie Destillate, ausgefeilte Mocktails, funktionale Drinks.
Und warum trink ich dann doch öfters drei Glas über den Durst?
Für Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Arzt oder Ihre Therapeutin
Die Entscheidung gegen Alkohol oder anderen Konsum (upper, downer, nicht-stoffgebundene Suchtmittel wie Glücksspiel, Medien, Pornographie) ist kompliziert. Oft eher Bewältigungsmechanismus denn kulturelle Gewohnheit oder gesellschaftliches Ritual. “Entspannungsdrink” am Abend, “soziales Schmiermittel” bei Events. Nicht jede:r ist gleich suchtaffin – genetische Prädisposition, frühe Traumata, sozialer Rückhalt, Stoffwechsel: Variablen gibt es viele. Für manche ist die einzige Lösung ganz aufzuhören – wie im Gesundheitswesen propagiert: wer einen Kassentherapieplatz will, muss bei Konsumproblem erst mal einen Entzug machen. Aber was, wenn ich weiß, dass es zu viel ist und ich einfach nicht bereit bin für den radikalen Schnitt? Und trotzdem gern an mir arbeiten würde, bevor ich rock bottom erreiche? Diese Menschen sitzen dann bei mir auf „der Couch“.
Es ist nicht Willensschwäche, sondern Biologie, die es einem schwer macht. Alkohol schwächt die Verbindungen zwischen präfrontalem Cortex (der “vernünftige” Teil des Gehirns) und limbischem System (sehr verkürzt: das emotionalen Zentrum). Stress schaltet den Cortex ab und die Amygdala (Feuermelder des Gehirns) schreit nach Hilfe, also Coping-Strategien. Das Tütchen am Abend zum Schlafen, eine Line für vermeintlichen Fokus, mal wieder ne Nacht durchtanzen auf Keta oder Molly um Probleme zu vergessen.
Selbsthass und superstrikte Regeln helfen entweder gar nicht oder bis zum nächsten Stress. Selbst moderater, regelmäßiger Konsum verändert das Dopamin-System, sodass alltägliche Freuden ohne Alkohol weniger befriedigen. Von harten Drogen ganz zu schweigen – die löten einem gepflegt Selbstwert und Motivation weg, die sie vorgeben aufzubauen. Und Dopamin ist ein Arschloch. Drogen schießen das Belohnungssystem hoch – kurz. Danach sinkt der Spiegel unter das Ausgangsniveau und man fühlt sich schlechter als zuvor. Werkzeuge dagegen: Emotionsregulation, kognitive Verhaltensmodifikation, epigenetisch wirksame Veränderungen im Lebenswandel, Traumatherapie und Antworten auf die Frage, wie das restliche Leben sein sollte, dass man es sich nicht laufend schön trinken muss.
Früher war das Motto, mein Motto: meine besten Tage waren Nächte!, weshalb mein Arbeitsattribut immer zuallererst Verständnis ist. Welche tieferen Bedürfnisse sind verletzt? Entspannung, Zugehörigkeit, Kontrolle, endlich mal was spüren. Oder endlich mal nichts mehr spüren müssen. Die Gründe für Selbstsabotage sind schier endlos. Blöde: Alkohol senkt zwar kurzfristig das Stresshormon Cortisol, langfristig zerschießt er aber die Regulationsfähigkeit des Nervensystems: Ängste, Sorgen, auch Depressionen nehmen zu. Unser Gehirn ist da flexibel: Das nennt sich Neuroplastizität und ist der Grund für das Entstehen von abträglichen Gewohnheiten (je öfter ich etwas tu, desto öfter tu ich es) und zugleich die Chance für ehrliche Transformation. Neuronale Netzwerke für habituelle Verhaltensweisen verschwinden damit leider nicht komplett, sie können noch nach Jahren der Abstinenz durch emotionale Trigger reaktiviert werden – verurteilt Rückfälle deshalb bitte nie.
Aufhören mit all dem, auch mit Alkohol, fühlt sich an, als würde man ohne Fallschirm aus einem Flugzeug springen. Der Fallschirm kann nicht nur aus Disziplin bestehen, dafür ist unser Hirn nicht gebaut. Er kann aber sehr wohl gewoben werden aus gesunden Entscheidungen, Milde beim Scheitern, Arbeit mit Therapeutinnen und Therapeuten, mit einem ehrlichen Blick aufs eigene Narrativ: wovor lauf ich weg, was betäube ich, was ermöglicht mir das Gift, und: wie wäre ich eigentlich gerne wirklich? Nicht unbedingt straight edge, dauerhaft nüchtern – sterben kann man auch im Straßenverkehr; aber vielleicht ab und zu und immer öfter die eine oder andere Sache weglassen können. Oder eben in die Vollen gehen – Exzess, mein Liebling! Und dann Daumen drücken, dass ihr aufgestellt seid wie mein Vater, der ist inzwischen 86 und mental noch richtig fit.
Die Bremerhavnerin Julia Rathjen hat TWA gegründet. Selbstbeschreibung: Nach über einer Dekade Corporate Kommunikationsstrategie inzwischen mit Leidenschaft tätig in den angewandten Neurowissenschaften, der interpersonellen Neurobiologie, Epigenetik, Emotionsregulation emTrace und als zertifizierter Business Coach (IHK). Ich halte die staatliche Heilerlaubnis beschränkt a.d. Gebiet der Psychotherapie mit einem Fokus der Privatpraxis auf psychische Belastungen, dysfunktionale zwischenmenschliche Erfahrungen und traumasensible Einzel und Mehrpersonen- auch Paartherapie auf Basis der interpersonellen Neurobiologie.