Es gibt eine alte Erzählung. Sie hielt mehrere Jahrhunderte lang und lautet: Die beste Weine der Welt werden in Frankreich, Deutschland und Ungarn gekeltert. Dann aber kamen das zwanzigste Jahrhundert und die mordenden Ideologien. Der deutsche Weinexport, damals wesentlich und wichtig für die Weinbaugebiete Rheingau, Mosel und Saar, war schon vor 1945 politisch für lange Zeit unmöglich geworden – und danach erst recht. Der ungarische Weinexport, ebenso wesentlich und wichtig, orientierte sich nach 1950 mehr und mehr nach Osten, nach Russland und in Richtung kommunistischer Bruderstaaten, wo Menge vor Qualität ging. Von den drei großen Weinexportnationen der Welt blieb nur eine über: Frankreich. Und neue – Italien, Spanien – kamen hinzu.
Nach dem Niedergang der ideologie-Regime wurde nichts mehr wie es war. Die Plätze am Weinbuffet der Welt sind neu besetzt. Und das bleibt so. Also mussten sich auch die Winzer und Weinhändler in Ungarns bekanntester Weinregion, dem Tokaj, neu erfinden. Und in den letzten fünf Jahren wird dieses neu Erfinden – und das in einem Land, wo Machismo vor allem in den ländlichen Regionen zum Alltag gehört – mehr und mehr in die Hände von Winzerinnen und Weinmanagerinnen gelegt, die, sehr still und leise, die Weine des Tokaj neu aufstellen: eleganter, präziser, leiser, europäischer und vor allem trinkfreudiger; eine Entwicklung, die auch manch westlichem Weinbaugebiet gut tun würde.
Judith Bott kennt sich bei Kühen gut aus. Die 45jährige Agrarwissenschafterin wollte Kühe züchten, eine Kuhfarm schwebte ihr vor: glückliche Kühe auf naturbelassenen Weiden in der östlichen Slowakei, woher Judith und ihr Mann Jozef herstammen; aus dem kleinen, vergessenen Teil des grenzübergreifenden Anbaugebiets Tokaj.
Doch dann kam der Weinbau. Und dieses „übergeordnete Interesse“, wie Bott sagt, wohl um den strapazierten Wort Leidenschaft auszuweichen. Judith Bott ist keine Winzerin, wie man solche auch in Deutschland findet; ihr Interesse gilt vor allem der Region Tokaj und den Rebsorten Furmint und Lindenblättriger, die hier die autochthonen Rebsorten sind. Und ihr Interesse gilt dem Aspekt, was diese Rebsorten auch trocken ausgebaut der Weinwelt erzählen können. Klar kann Bott auch Süßweine, doch jeder hier kann Süßweine. Die Königinnendisziplin im Tokaj heißt aber seit gut zehn Jahren: können trockener Furmint und Lindenblättrige am Markt trockener Qualitätsweine bestehen? Die Antwort gibt der Markt, auf welchem trockene Tokajer heute mehr Gewicht haben, als die Jahrhunderte lang gerühmten Edelsüßweine der über Jahrhunderte lang bekanntesten Süßweinregion der Welt. Kann man sagen, dass sich das Tokaj neu erfunden hat? „Kann man sagen“, sagt Bott, die heute auch die ungarische Staatsbürgerschaft besitzt, „ohne die trockenen Weine würde das Tokaj heute wohl kaum mehr Bedeutung haben.“
Diese neuen trockenen Tokajer finden vor allem im Land selbst massiv Abnehmer, denn Ungarn, auch und vor allem die linksliberalen Städter, trinken heute fast ausschließlich ungarische Weine, die ein ähnliches Preisniveau wie deutsche Weine haben – in Ungarn zahlt man gerne mehr, wenn Wein aus dem eigenen Land kommt.
Judith Bott und ihr Mann Jozef wohnen heute im Betrieb ihre Bott-Pince in Bodrogkeresztúr. Das Haus war ein einst ein Kulturtreffpunkt, daran angeschlossen eine ehemalige Keramikfabrik – ein großes, teils ungenütztes Gelände, das die Botts günstig erwerben konnten. Wer wissen will, wie man mit wenig Geld ein auch international bekanntes Weingut ins Leben ruft, der kann bei den Botts in Lehre gehen. Die einst wortwörtlich armen Schlucker, haben sich in den letzten zwanzig Jahren ein stabiles Unternehmen hingestellt, das aber auch heute noch die Trauben mehrheitlich aus gepachteten Weingärten holt – wenig Besitz, viel Reputation. Ist der Weinbau im Tokaj weiblicher geworden? „Ich weiß nicht, ob man das generell so sagen kann“, antwortet Bott, „aber ich kann ihnen so ungefähr fünfzehn Winzerinnen in der Region nennen. Für Ungarn ist das eine sehr hohe Zahl.“ Nicht nur für Ungarn.
Winzerinnen? Die gab es bis vor vierzig Jahren kaum im Weinbau. Und wenn es sie gab, dann gab es sie, weil kein männlicher Erbe da war, der von den Eltern, also vom Vater, bestimmt, das Weingut weiterführen konnte. Der Blick der Winzer auf Wein war ein rein männlicher Blick, denn die Arbeit in Garten und Keller ist harte, körperliche Arbeit, die über Jahre in die Knochen geht. Winzer, das waren Männer, die mit sechzig oft nicht mehr aufrecht stehen konnten – wenn sie überhaupt sechzig wurden.
Doch als Weinbau, die einzige Kulturlandwirtschaft der Welt, mehr und mehr Geld einbrachte, da konnten auch kleine Weingüter schwere Arbeiten delegieren. Und als dieser neue Weinbau, der, der Geld verdiente, zusätzlich intellektuelles Potential begehrte, also ein Nachdenken über Lage, Kleinklima, Kellertechniken und die Verkaufspolitik der Betriebe, da sahen sich weltweit auch Winzertöchter aufgerufen, im Betrieb partizipierend oder alleine das Sagen zu haben. Das hat zu anderen, viel, viel besseren und bekömmlicheren Weinen geführt. Und auch dazu, dass viele Winzer begriffen haben, dass sie auch für Frauen keltern; nun vor allem für Frauen, die ihre Weine selber bestellen, kaufen und trinken – und nicht jene Weine alleine, die ein Mann, Beziehungs- oder Geschäftspartner, für den jeweiligen Tisch bestellt oder öffnet.
Rita Takaro, Ungarin mit einem japanisch klingenden, hier nicht seltenen Nachnamen, ist keine Winzerin, obwohl sie keltern kann, sondern eine der wichtigsten Weinmanagerinnen des Tokaj. Und so wie alle hier erzählten Frauen kommt sie nicht aus der ungarischen Region selbst, sondern ist eine Zugereiste – im Fall Takaro aus dem Weinbaugebiet Kunság, ein Anbaugebiet, das man mit Rheinhessen vergleichen kann; nur ohne dem Aufbruch in die önologische Moderne. Diese fand Takaro dann im Tokaj.
Takaro zu begegnen ist eine reine Freude, denn die Begegnenden können sich getrost fallen lassen, alles ist perfekt organisiert und das Organisierte kommt punktgenau zu den interessanten Punkten. Lagen, Trauben, Klima, Geschichte: das alles erklärt Takaro so, wie sie es vor fast zwanzig Jahren schon weltweit erklärte, als die Frau aus einfachen Verhältnissen nach abgeschlossenem Studium 2006 als CEO bei der Winzervereinigung Tokaj Renaissance anheuerte, die die Tochter einer Nebenwerwerbswinzerfamilie durch die Welt schickte, um der Welt in englisch, spanisch und deutsch von der Revolution trockener Tokajer zu erzählen. Wie war das damals? „Es war jahrelang ein Leben aus dem Koffer“ sagt Takaro, „und es war genau das, was ich wollte.
Nach dem Bereisen der Welt schlug sie wieder im Tokaj auf, um bei einer staatlichen Weinkellerei weiterzumachen, die heute Royal Tokaj heißt. Hier lernte Takaro, dass Politversprechen meistens Versprechen bleiben und das Management dem Staat, in dem Fall der Regierung Orban unterstellt ist – nicht das, was Takaro unter unternehmerischer Freiheit versteht.
Heute arbeitet Takaro für die international aufgestellten Weinmacher von LMM-Projects mit Sitz auch in Frankfurt am Main. Mit LMM und den Tokajer Weingut Mad (im gleichnamigen Ort) entwickelte Takaro ihr aktuelles Projekt Mad-Moser, eine gehobene Linie furztrockener, für den internationalen Markt gedachter, schon auch singulärer Furmints, die genau das Gegenteil der Weine von Judith Bott sind – und die dann doch die gleiche Erzählung haben. „Furmint“, sagt Takaro, „war einst eine der großen Sorten der Welt, die alle Weinenthusiasten kannten. Aber eben nur als Teil fruchtsüßer Tokajer. Heute ist die Erzählung eine völlig andere und muss vor allem jungen Weintrinkern erzählt werden, die alte Tokajer und das Tokaj gar nicht kennen.“ Nachsatz: „Und genau da liegt die Chance, die hier im Tokaj erstaunlich gut erkannt wird. Das hat natürlich auch mit der Systemwende von vor dreißig Jahren zu tun, wo klar wurde, dass das Tokaj sich nicht nur auf seiner großen Vergangenheit ausruhen kann.“
Eine ähnliche Geschichte von In-die-Welt-Hinausgehen und wieder nach Ungarn zurückzukommen erzählt auch die Winzern Vivien Ujvary, doch steckt sehr viel Singuläres in diese Biogarafie, die man in der Weinwelt sonst nicht gleich erzählt findet, denn die 37jährige Ujvary verantwortet nicht nur die Weine der Barta-Pince in Mad, sondern auch die Weine ihres alten Familienweinguts am Balaton. Dieses Famlienweingut hat aber nur 0,65 Hektar Welschriesling und Weißburgunder, was sozusagen nichts ist, denn von diesen paar Rebzeilen kann man jährlich nur Trauben für rund 2000 Flaschen generieren. Weil Ujavaris Balaton-Kreszenzen aber in den ungarischen Top-Sternrestaurants Winekitchen und Textura ausgeschenkt werden und in ungarischen Vinotheken als Geheimtipp gehandelt werden, gilt sie im Lande als Ausnahmewinzerin. Das, und ihre internationale Karriere, sozusagen als Winzerlehrling in Napa in Kalifornien und in Neuseeland, haben die Besitzer der Barta-Pince dazu aufgerufen, ihrem Betrieb einer Winzerin zu überantworten, die nicht nur gleich eine gewinnende Persönlichkeit an den Tag legt, sondern auch extrem reflektiert über die Region, die Böden und das Klima reflektieren kann. Und sie setzt in den Barta-Weinen konsequent jene Kelterkultur durch, die man sehr wohl als weiblich verschlagworten kann und die heute als Teil der Moderne im Weinbau verankert ist. Also elegantes, vielschichtiges, das Holz der Fässer absolut dezent aber wirksam einsetzendes Handwerk, das die brüllenden Weine des Gestern weit in den Schatten stellt. Gibt es so etwas wie eine weibliche Revolution im Tokaj? „Was ist sagen kann“, atwortet Ujvary, „ist, dass hier im Tokaj Winzerinnen wohl weniger Skepsis entgegenschlägt als anderswo. Und, mir zumindest, keine Steine in den Weg gelegt wurden, das zu tun, was ich für richtig halte.“