(Ein Gastbeitrag von Dr. Philipp v. Geymüller. Gastbeiträge müssen – wie in diesem Fall doch deutlich – nicht der Meinung der Redaktion entsprechen)
Sie zieht sich wie ein roter Faden von der Antike bis in die heutige Zeit durch die gesamte Kulturgeschichte: Die Vorstellung, dass die Zivilisation krank macht und dass ein einfaches, selbstgenügsames Leben, wie früher im Einklang mit der Natur, das wahre Glück bringt.
Versinnbildlicht wird diese Sichtweise von Jean-Jacques Rousseau: “Alles ist gut, wie es aus den Händen des Schöpfers kommt; alles entartet unter den Händen des Menschen.”
Dem großen Einfluss Rousseaus folgend wurde das Zurück zur Natur im 18. Jahrhundert bald zum Trend. So ließ sich Marie Antoinette im Schlosspark von Versailles einen idyllischen Retorten-Weiler, das “Hameau de la Reine”, errichten, um dem strengen Hofleben zu entfliehen und in einer idealisierten, ländlichen Umgebung den Traum von der Einfachheit, Freiheit und Schönheit des Landlebens zu leben.
Gerade auch heute scheint diese Sehnsucht nach einem einfachen, ursprünglichen, nicht von der Zivilisation eingeschränkten Leben wieder besonders groß: Trotz des größten Wohlstands und der größten Lebenserwartung aller Zeiten und vieler anderer sich objektiv sehr gut entwickelnder Parameter sind viele Menschen in unseren Breiten unzufrieden und sehnen sich nach einem alternativen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, das vermeintlich mehr Sinn gibt und mehr Freiheit lässt.
“Naturwein” ist ein geradezu paradigmatischer Ausdruck dieser Sehnsucht, verspricht er doch im Gegensatz zu vermeintlich langweilig zivilisiertem „industriell“ bzw. „konventionell“ produziertem Wein das Reine, Unverfälschte, Wilde, die Natur im Glas und suggeriert, dass man damit etwas zur Rettung der Welt beiträgt. Und so erfreuen sich selbst ernannte (es gibt keine offiziellen Kriterien dafür) Naturweine zunehmender Beliebtheit, vor allem auch beim jüngeren, urbanen Publikum, stark befeuert von den Medien und anderen Stimmungsmachern. Man denke nur an die Ausgabe des “Rondo”-Magazins der österreichischen Tageszeitung “Der Standard” vom November 2018 mit dem Titel: “Warum wir mehr Naturwein trinken sollten”.
Wein ist nicht Natur, sondern Kultur
Ja, warum eigentlich?
Schon der Begriff “Naturwein” muss nämlich eigentlich stutzig machen, weil er ein Widerspruch in sich ist: Die wilde, ungezähmte Natur ist ursprünglich typischerweise ein unwirtlicher, menschenfeindlicher Ort, oder wie es der Filmemacher Werner Herzog über den Urwald auf den Punkt bringt: „Der Urwald ist kein Ort der Harmonie, sondern ein Ort überwältigender, erdrückender Gleichgültigkeit. Es ist ein Ort, an dem das Leben in all seiner Fülle und seinem Schrecken pulsiert.“ Auch die Rebe ist natürlicherweise eine wilde Ranke, die auf Bäume klettert. Um sie wirklich nutzbar zu machen, hat der Mensch sie aus der Wildnis geholt und so erzogen, dass sie im (Reb-)Garten eine gute Figur macht. Hierfür muss er sie das ganze Jahr über intensiv betreuen, angefangen beim Rebschnitt über die Boden- und Laubarbeit bis hin zur Lese im Herbst, und sie vor Schädlingen und Krankheiten schützen.
Wie beim Wein gilt in der gesamten Land- und Forstwirtschaft seit der Vertreibung des Menschen aus dem Paradies nämlich leider: Von nichts kommt nichts. Also wenn der Mensch nichts macht und die wilde Natur durch seine gestaltende Tätigkeit, durch das kultivieren, in eine Kultur überführt, wird nichts daraus. Und so sind die Flure mit ihren Äckern, die Berge mit ihren Almen und die durchgängig forstwirtschaftlich genutzten Wälder in unseren Breiten, aber auch Tee- oder Kaffeeplantagen in anderen Regionen und insbesondere der Wein überall auf der Welt seit Jahrhunderten oder Jahrtausenden vom Menschen im Schweiße seines Angesichts geschaffene Kulturlandschaften. Es sind aber just oft diese Landschaften, die der Städter im Kopf hat, wenn er sich nach einer Auszeit sehnt, denn sie sind wunderschön, wegen und nicht trotz des menschlichen Eingriffs.
Dazu kommt beim Wein, dass auch die Herstellung ein kultureller Akt ist: Der Winzer ist ein “Eleveur”, wie die Franzosen so schön sagen, er erzieht den Wein idealerweise wie einen Ballett-Eleven, es hängt also fast alles an ihm, dem Winzer, und nur sehr wenig am chaotischen Zufall der Natur, auch wenn er sich einmal bewusst für eine Spontanvergärung entscheidet. All dies führt dazu, dass gerade im Wein das Wesen unserer abendländischen Kultur verdichtet ist. Man erinnere sich nur, wie oft Winzer, Rebstock und Wein alleine in der Bibel vorkommen und wie wichtig der Wein für die Kulturgeschichte dieses Kontinents ist.
Wein ist also Kultur und Kultur ist das Gegenteil von Natur: Ein echtes und konsequentes Zurück zur Natur würde das Ende des Weinbaus bedeuten wie wir ihn kennen und kann insofern rationalerweise nicht gefordert werden.
Die Naturweinbewegung: esoterisch, antiaufklärerisch, quasireligiös
Aber die Naturweinbewegung ist eben nicht rational, sondern bewusst irrational. Es geht hier nicht um Fakten, sondern um den, gerne auch ostentativ zur Schau gestellten, Glauben, sich und der Welt mit Naturwein etwas Gutes zu tun. Damit ist man im esoterischen Eck, genauso wie die Impfgegner. Es ist interessant, dass typischerweise dieselben Leute, die während der Coronazeit Impfgegner besonders vehement als Schwurbler etc. beschimpft haben, sehr gerne auch zu Naturwein greifen, obwohl es sich hier um das gleiche Gedankengut handelt: Die Biodynamie, einer der wichtigsten gemeinsamen Nenner der Naturweinbewegung beruft sich auf Rudolf Steiner, einem Parade-Esoteriker, Mystiker und vehementen Impfgegner der ersten Stunde.
Eine Folge dieses Dogmatismus und Sendungsbewusstseins ist, dass es nicht mehr so sehr darum geht, ob ein Wein schmeckt, sondern ob er von der richtigen Person mit der richtigen, der Naturwein-, Ideologie gemacht wurde. Dies macht die Naturweinbewegung ähnlich zu anderen vor- oder antiaufklärerischen Bewegungen wie der Kirche, dem Marxismus und der gesamten Postmoderne mit dem Wokeismus.
Die Aufklärung steht dagegen für Rationalität, empiriebasierte Wissenschaftlichkeit und damit für die Zivilisation. Dies hat uns von Mystizismus und der Bindung an obrigkeitliche Dogmen befreit sowie die Anerkennung der Universalität der Menschenrechte, Fortschritt und Wohlstand gebracht. Man denke nur an die Medizin. Auch in der Landwirtschaft und natürlich auch im Weinbau haben Wissenschaft und Forschung zu enormen Fortschritten geführt. Die Erträge sind gestiegen, die Qualität hat zugenommen. Dass dabei mitunter auch, meist hervorgerufen durch politische Eingriffe, zum Beispiel durch Subventionen oder die Verteuerung der menschlichen Arbeitskraft, über das Ziel hinausgeschossen wurde und auch beim Weinbau nach der Maxime Quantität vor Qualität die natürlichen Ressourcen nicht immer mit maximaler Sorgfalt behandelt wurden, ist wahr. Aber eine Abkehr vom Prinzip der Wissenschaftlichkeit, wie dies die Naturweinbewegung implizit fordert, ist deshalb noch lange nicht gerechtfertigt. Wenn sie sich auf Rudolf Steiner beruft, also auf Überlegungen aus den 1920er Jahren, negiert sie nämlich den wissenschaftlichen Fortschritt von über hundert Jahren. Wenn man das gleiche in der Medizin getan hätte, hätte ich meine Midlife-Crisis mit 7 gehabt, weil ich wahrscheinlich an meiner Blinddarmentzündung mit 14 gestorben wäre.
Wein sollte schmecken und nicht dem Glauben dienen
Man könnte nun sagen “Hilft’s nichts, schadet’s nichts” aber stimmt das bei der Naturwein-Ideologie?
Tatsache ist, dass Naturweine normalerweise signifikant teurer sind als vergleichbare konventionelle Produkte. Dies liegt an den Bewirtschaftungsmethoden, die zwar, wenn man beispielsweise mit dem Pferd den Weingarten bearbeitet, herrlich instagrammable, aber eben rückschrittlich sind.
Bringt Naturwein der Natur etwas? Mir ist kein Forschungsergebnis bekannt, das das abschließend belegt. Ich höre nur immer wieder, dass die Weingärten der Naturweinwinzer insbesondere in “Schwammerl”-Jahren recht ungesund ausschauen aber das ist möglicherweise nicht repräsentativ für das Ganze.
Und am wichtigsten: Schmecken Naturweine besser als konventionell produzierte Weine? Da es beim Wein kein objektives Qualitätskriterium gibt, kann ich mich auch hier nur auf meine anekdotische Evidenz berufen: Wenn man in trauter ländlicher Winzer-Profi-Weinverkostungsrunde zusammensitzt ist der Tenor klar, die Naturweine schmecken normalerweise nicht, sie sind oft säuerlich und dünn, wie wenn die Reben zu wenig versorgt worden wären. Ich höre auch immer wieder von unvoreingenommenen aber erfahrenen Restaurant-Besuchern, dass sie in einschlägigen Hipster-Naturweinlokalen zwar herrliches Essen bekommen haben, dass sie aber die ausschließlich zum Angebot stehenden Naturweine wiederholt zurückschicken mussten. Wie gesagt, das ist anekdotische Evidenz: Es gibt großartige Naturweine, genauso wie es großartige, sensibel gemachte konventionell produzierte Weine gibt. Über Geschmack lässt sich nicht streiten, also belassen wir es in diesem Punkt bei einem Unentschieden.
Das Paradies zurückgewinnen: Mit Pragmatik und Offenheit
Zusammengefasst, es gibt keine rationalen Argumente für Naturwein. Er schmeckt nicht unbedingt besser als konventionell produzierter. Er ist oft viel teurer als konventionell produzierter. Es ist nicht nachweisbar, dass seine Produktion wirklich nachhaltiger ist. Was dann? Ja, es ist eben eine Ideologie, die verbindet, man kann damit sehr schön “virtue signalling” betreiben und es ist eine Ersatzreligion, die in unserer säkularisierten, nihilistischen Gesellschaft auf fruchtbaren Boden fällt. Aber bleiben wir bitte bei der Sache und beurteilen wir einen Wein wieder unvoreingenommen danach ob er schmeckt und ob er ein gutes Preis-Genussverhältnis hat, denn auch angesichts der jüngeren Generationen, die sowieso immer weniger trinken und sich aufgrund von Inflation und unsicheren Arbeitsverhältnissen vor wirtschaftlichem Abstieg fürchten, sollte auch wirklich guter Wein leistbar sein und kein Elitenprodukt. Dies kann erreicht werden: Mit sensibler aber faktenbasierter Bewirtschaftung, die die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse nutzt und auf ideologische Scheuklappen verzichtet – in diesem Sinne: Prost ohne Verblendung auf das wiedergewonnene Paradies.
Zusammengefaßt, es gibt keine rationalen Argumente für klassischen Wein!
Zusammengefaßt, es gibt keine rationalen Argumente für Naturwein1
Was bitte soll diese Schwarz-Weiß-Malerei der konträren Parteien? Es gibt goile Klassiker und es gibt goile Naturweine! Und ich liebe beide! Und es gibt unfaßbar schlechte Naturweine. Und noch viel mehr unsägliche, maximal belanglose, klassische Weine!
Beide Stile haben ihre Berechtigung und sollten nicht gegeneinander ausgespielt werden, wer das tut, ist in meinen Augen einfach nur erbärmlich! Sorry für die harten Worte, aber mich kotzt dieses undifferenzierte Naturweinbashing einfach an!
Geil! Jahrelang all diese arbeitenden Winzer abgegrast um vll ein paar Flaschen für die Box zu ergattern und dann so einen Artikel raushauen! Wohl von den Traisentaler “Nachhaltigkeitswinzern” eine Gehirnwäsche bekommen? und wenn man dann fertig gelesen hat kommt man drauf das der Autor das Thema “Naturwein” schlicht nicht verstanden hat! Schade eigentlich! Oder soll ich gar glauben das hier jemand einfach nur ein wenig Aufmerksamkeit erhaschen wollte?
“Was ist Natur?” fragte der Professor in meiner ersten Naturgeschichte-Stunde am Gymnasium 1967 in die Klasse. Ich, der Elfjährige, zeigte als Einziger auf und sagte: “Natur ist all das, was nicht vom Menschen geschaffen wurde.” Der Professor rastete völlig aus und rief: “Dieser Mann ist hochintelligent! Denn genauso ist es.”. Ein Irrtum, wie sich für mich erst kürzlich herausstellte, als ein philosophisch beschlagener Freund mir klarmachte, dass der Mensch mit all seinen Hervorbringungen ein Teil der Natur ist. Ich fürchte aber, wir sind eine nicht erfolgreiche Species, die sich gerade selbst abschafft, weil die Evolution alles, was nicht erfolgreich ist, auf dem Kerbholz hat. Allerdings geben mir gerade manche Weine die Lebenslust beim Abgesang zurück: Weine aus vollreifen Trauben, mit möglichst wenig Eingriffen und Zusatzstoffen bereitet und einem reintönigen Geschmack, der auch nach geduldigem Ausbau und langer Lagerung bei aller Komplexität noch den Geschmack von reifen Beeren mitbringt. “Jeder große Wein muss auch in der Reife noch einen Anteil von frischen Primäraromen haben”, sagt sinngemäß Émile Peynaud in seinem Großwerk “Le Goût du Vin”. Und an dieser hohen Hürde scheitern nicht nur die meisten sogenannten “Vins nature”, sondern auch die mit Additiven aufgeblasenen Monster des 100-Punkte-Mainstreams.