Willi Klinger war über lange Jahre der CEO der österreichischen Winemarketing und danach CEO bei Wein & Co, dem zur Hawesko gehörigen führenden Weinhandelshaus Österreichs – dort schreibt Klinger heute eine Kolumne zu aktuellen Themen der Weinwelt (“Mit spitzer Zunge”)
In einer WhatsApp-Blitzumfrage unter 80 bekannten Leuten aus der Weinbranche konnte ich mich für diesen Artikel trefflich munitionieren. Dass 40 dieser Profis aus Weinbaupolitik, Fachmedien, PR, Handel, Einkauf, Vertrieb, Gastronomie und der Weinproduktion wie aus der Pistole geschossen wertvolle Gedanken und Beobachtungen lieferten, zeigt die Brisanz des Themas. Und gleich vorweg: Fast alle haben die Titelfrage im Grunde bejaht: Wie viele andere Länder auch haben wir eine handfeste Rotweinkrise. Und sie trifft uns noch dazu in einer Zeit genereller Wirtschaftsflaute, stark gestiegener Endverbraucherpreise, einer Krise der Gastronomie und eines geänderten Konsumverhaltens junger Zielgruppen. Das ist etwas viel auf einmal für die einst so aufstrebende Rotweinkategorie unseres Landes, aber bevor wir es uns mit der Analyse gar zu einfach machen, wollen wir die Lage etwas genauer ansehen.
Weinbaufunktionäre berichten, dass wir in Österreich seit Jahren rund 700.000 Hektoliter – das sind 70 Millionen Liter oder etwa eine Rotwein-Jahresernte – vor uns herschieben. Dabei handelt es sich um Basisweine im „unteren Segment“, für die es kaum einen Markt gibt. Wer trinkt schon heute noch Literware rot? Kritiker unter meinen Informanten sprechen von verfehlter Auspflanzungsstrategie und einer Produktion vorbei am Markt. Stimmt, aber in dieser Hinsicht noch immer die Weinbaupolitik zu brandmarken, wäre ein Schlag ins Wasser. Ja, es wurde einmal empfohlen, mehr Rotweinsorten zu pflanzen, aber das war zu Zeiten, als der Rotwein-Eigenanteil in Österreich nur 15 Prozent betrug – und das war zu wenig. Heute ist jeder Betrieb für sich selbst verantwortlich und müsste längst wissen, wie man den Sortenspiegel oder die Produktionsfläche auf die neuen Gegebenheiten anpasst, wie es viele auch schaffen.
Ich habe noch Albiera Antinori, führende Person der italienischen Antinori S.A. im Ohr, die vor etwa 10 Jahren bei einem Symposium erklärte, dass global gesehen Produktion und Konsum von Wein erstmals in Balance wären. Heute kann man ganz klar sagen, dass es auf der ganzen Welt eine deutliche Überproduktion gibt, aber nicht, weil die Produktion extrem angestiegen wäre, sondern weil seit 2019 der Weinkonsumauch in jenen Wachstumsmärkten stagniert, die in den zwei Jahrzenten davor die permanenten Rückgänge in den großen Weinländern Europas ausgeglichen haben. Covid, Kriege, Inflation und die daraus resultierende schlechte Konsumstimmung mögen Gründe dafür sein. Aber ich befürchte, dass wir es hier mit einem Phänomen von größerer Magnitude zu tun haben. Wer sich heute genauer mit dem Konsumverhalten junger Leute beschäftigt, und das tun entschieden zu wenige Player in unserer Branche, der wird feststellen, dass wir uns alle zu wenig um den „Nachwuchs“ für unsere Weinkultur kümmern. Die alte Garde der „heavy user“, Menschen mit hohem Weinverbrauch, stirbt aus. Ein befreundeter Winzer, der heute seinen Betrieb schon gut neu positioniert hat, sagte früher oft: „Jeder Partezettel bedeutet ein Fass, das mir pro Jahr im Keller übrigbleibt“.
Nach Covid hat es der Wein besonders schwer: Bier, Aperitivo und bunte Cocktails treffen das Lebensgefühl und die Geschmackswelt von Millennials und Generation-Z viel eher als schwere Rote. Einzig Schaumwein, frische Weiß- und Roséweine und in urbanen Nischen die Natural Wines mit ihren lustigen Etiketten und völlig anderem Geschmacksbild konnten in letzter Zeit zulegen. Viele, nicht nur junge, Leute schreckt auch der Preis ab, denn guter Wein ist ganz schön teuer geworden – nicht nur bei uns.
In meiner persönlichen Umfrage zeigte sich aber auch, dass das Premium-Rotweinsegment noch immer gut funktioniert. Offensichtlich ist die hochpreisige Kategorie, die mit viel Mühe im Markt verankert werden musste, heute krisenfester als der billige Mainstream. Eine spezielle Spezies von Weintrinkern sind die sogenannten „Collectors“, mehrheitlich maskuline ältere Semester, die große Weine wie Trophäen horten, bis sie draufkommen, dass sie viel zu viele davon im Keller haben. Und wenn sie dann endgültig den Überblick verlieren und die Sammlung über Auktionen oder Händler erst recht wieder in den Kreislauf einspeisen, um die Pension aufzufetten, wird das Angebot von Top-Weinen auch nicht kleiner. Ich habe den Verdacht, dass von den ganz teuren Weinen einfach zu viel gehamstert und zu wenig getrunken wird. Das ist schade, denn gerade die gereiften Premiumweine werden ja viel zu selten ihrer wahren Bestimmung gemäß eingesetzt, nämlich in Kombination mit passend dazu abgestimmten Gerichten. Also: an die Korken!
Warum scheint der Rotwein also plötzlich aus der Zeit gefallen zu sein? Ein Argument liegt auf der Hand: Wenn es in der Welt immer wärmer wird und die kalte Jahreszeit immer kürzer, sinkt das Verlangen nach Rotwein, vor allem dann, wenn er noch dazu landauf landab viel zu warm serviert wird. Wer soll diese kopflastigen, alkoholischen Narkotika bei 35 °C auf der Terrasse trinken wolle? Da hilft es auch nichts, wenn sie 110 von 100 Punkten in der Nabelschau vor sich hertragen. Natürlich ist die Branche hierzulande auch selbst schuld. Erstens gibt es in Österreich viel zu wenige elegante und leichte Rotweine. Als Geschäftsführer der ÖWM habe ich jahrelang auf diese strategische Achillesferse hingewiesen und mit der Einführung einer Kategorie leichterer Rotweine ohne Holz beim nationalen Weinwettbewerb „SALON Österreich Wein“ eine Bühne geschaffen. Die Kategorie wurde von der Produktion nicht ernstgenommen und spärlich beschickt. Daher sage ich mit extra scharfer Zunge: „Die österreichische Rotweinkrise ist von der Produktion hausgemacht. Sie beginnt im Kopf, weil zu viele Erzeuger nicht wissen, wie der Wein auszusehen hat, der aus ihren Trauben entstehen soll.“ Nach bemühten und engagierten Anfängen Mitte der achtziger Jahre ist der österreichische Rotwein – mit Ausnahme der Spitze – vom Weg abgekommen und hat sich zu stark auf dunkle Farbe, Holz und allerlei Hilfsmittel, die ein bombastisches Mundgefühl vermitteln, verlassen. Niemand wollte eleganten, leichten Rotwein für Einsteiger erzeugen, niemand ihn auf das Podest heben. Auf der anderen Seite scheitern viele günstige Blaufränkisch mit zu hohen Erträgen an ihrem sauren und sperrigen Charakter. Da funktioniert der Zweigelt viel besser, aber darüber hinaus wird er unter seinem Wert geschlagen. Und rote Natural Wines können maximal Achtungserfolge feiern, aber die ökonomische Bilanz ebenso wenig retten wie die wirklich guten Rotweinmacher des Landes. Auch sie sind in der Minderzahl.
Die Gastronomie, einst verlässliches Standbein der Weinwirtschaft, ist mittlerweile selbst nicht mehr das, was sie einmal war. Am Land sterben gerade jene Wirtshäuser wie die Fliegen, die oft mehr hochwertige Weine verkauften als so mancher Gourmet-Tempel. Nicht nur in abgelegenen Gegenden findet der Stammtisch an der Tankstelle statt, weil es keine Alternative gibt. Und die immer weniger werdenden guten Betriebe finden immer seltener engagierte Menschen im Service wie jene, die die neue Weinkultur in unserem Land mit viel persönlichem Engagement und Einsatz vieler Stunden jenseits der Stechuhr mit ihren Chefleuten aufgebaut haben. In den Städten ist das Angebot dafür riesig, multikulturell und immer weniger weinaffin. Immerhin hat unsere jahrelange Weinmarketing-Kampagne „Asiaküche und Wein“ dazu geführt, dass es zu Sushi, Peking-Ente & Co heutzutage auch ein vernünftiges Angebot glasweise gibt. Man soll und kann sich natürlich auch für die österreichische Traditionsküche einsetzen. Aber marketingstrategisch geht es darum, Wein in jedem kulinarischen Kontext salonfähig zu machen. In der Fine Dining Abteilung wird es für den Rotwein leider auch immer enger. Dort wird heute nicht mehr so gekocht, wie es Rotweinfreaks vom alten Schlag geschmeckt hätte: rotweinaffin und mit anständigen Saucen. Ich weiß oft selbst nicht mehr, wann ich endlich Rotwein trinken kann, vor lauter ausgefeilten, gesunden und gemüsigen Kunstwerken auf dem Teller.
Gesundheit! Der Schlüsselbegriff unserer Zeit. Nach neuesten Forschungen ist das French Paradox, ein mediterran inspirierter Lebensstil mit ein, zwei Gläsern Rotwein täglich, der jahrzehntelang als gut für unsere Gesundheit galt, scheinbar wissenschaftlich widerlegt. Wenn man dem Trommelfeuer der Hygenisten Glauben schenkt, herrscht von nun an Lebensgefahr ab dem ersten Glas Wein! Haben diese Apostel der Askese schon einmal studiert, wie viele schöne Stunden, glückliche Beziehungen, interessante Reisen, herrliche Essen in fröhlicher Runde, tiefgreifende historische, geographische und philosophische Erkenntnisse, ja wieviel große Kunst der Wein in die Welt gesetzt hat? Ich habe die Forscher, die uns jetzt sogar den moderaten Weingenuss madig machen wollen, im Verdacht, dass sie in ihren Bürotürmen vor allem eines perfekt beherrschen: Trübsal blasen.
Andreas Oenig via facebook
“Würden leichtere Rotweine wirklich funktionieren? Beliebtester Rotwein in Deutschland ist italienischer Primitivo – mit Abstand. Der ist fett, süß, alkoholisch, marmeladig. Dazu gibt es die Mehrheitsmeinung, dass man in D keinen richtigen Rotwein produziert, weil Spätburgunder, mehr oder weniger elegant, nicht als Rotwein gesehen wird und tendenziell abgelehnt wird. Insofern glaube ich nicht, dass das ein großer Markt für “leichte” Roteweine existiert. In der Blase – sicher, da gab es einen Trend. Aber die weinaffinie “Jugend” ist mit Spätburgundern und ausgewogenen Blaufränkisch u.a. doch schon längst versorgt und trinkt trotzdem mehr weiß als rot.”
Florian Bechthold antwortet Andreas Oenig via facebook
“leichte Rotweine, da geht es in dem Kontext eher darum: leichter im Alkohol, aber vor allem kein oder kaum Holz, keinesfalls Neuholz oder Barrique. Warum? Mehr Fruchtbombe und im Vergleich zum Primitivo ist das dann eben frischer, etwas das ja grundsätzlich beim einfacheren Trinken gemocht wird. Nicht zu viel Würze, klarerer Primärfokus. Und dann kann man solche Weine auch noch sehr gut runterkühlen.”
Thomas Eilf via facebook
“Ich kann nur aus meiner eigenen Blase als (mittel)alter, weißer Mann kommentieren, der dem Willi Klinger, den ich übrigens als im positiven Sinne Weinverrückten überaus schätze, in jedem Punkt von Herzen Recht geben muss, aber da ist eben diese Blase, die mich umgibt, und Wissenschaftler als Moralapostel zu bezeichnen, geht wohl auch nur aus der Blase heraus. Die Mehrheit wird das anders sehen, und das wohl zurecht. Fakt ist nun mal, dass wir gerade in Österreich das Problem haben, dass Alkohol über Jahrzehnte bis Jahrhunderte hinweg einfach zu sehr verharmlost wurde, ja sogar glorifiziert wurde als österreichische Lebensart bis hin zum in Schnaps getränkte Schnuller, damit die Kleinen besser schlafen, und ein großer Teil der österreichischen Wein- und Winzeridentät darauf aufgebaut wurde. Und jetzt kommen die Jüngeren und sagen: “Nö. Eigentlich wollen wir das nicht.” Und diese Diskrepanz wird sich nicht auflösen lassen, indem man mehr leichtere Rotweine produziert statt heftiger Wuchtbrummen. Anpassen wird man sich müssen, aber das wird wohl hauptsächlich über die kleiner werdende Menge für so Nerds wie uns geschehen. Aber vielleicht brauchen wir in Zukunft auch einfach wieder mehr Gemüsefelder statt Rebflächen.”
Clemens Riedl via facebook:
“Ich teile die Analyse von meinem Freund Willi Klinger fast uneingeschränkt. Nur in einem Punkt bin ich anderer Meinung: “Ich weiß oft selbst nicht mehr, wann ich endlich Rotwein trinken kann, vor lauter ausgefeilten, gesunden und gemüsigen Kunstwerken auf dem Teller.” Viele große Rotweinen zeichnen sich heute durch Frische und Finesse aus und sind daher auch deutlich vielseiter einsetzbar. Gerne auch zu Fisch und Gemüse und durchaus auch bei wärmeren Temperaturen leicht gekühlt auf der Terasse 😉 Schick euch gerne eine entsprechende Liste!”
Markus Hammer via facebook:
“Sicher von den Produzenten großteils mitverursacht. Aber Gegenbeispiel. Ich werf mal zb. Puszta Libre in die Runde. Toller Rotwein absolut gegen den Mainstream. Scheisst auf Punkte und Bewertungen und soll einfach Spaß machen. Hat aber sicher gedauert bis der sich am Markt etabliert hat.”
Gottfried Lamprecht via facebook:
“Ja, ja, leider werden (1.) feine & elegante Rotweine nur sehr spärlich angeboten und 2. versteht diese kaum jemand …”
Martin Schärli via facebook:
“Das Konsumverhalten hat sich einfach geändert, das hat nichts mit dem Weinstil zu tun. Den täglichen Rotwein zum Essen gibt es nicht mehr, die jüngere Generation trinkt weniger Wein. Dies haben Länder wie Frankreich oder Portugal schon viel früher gespürt, weil dort der Konsum viel höher war als hier. Die Anbaufläche wird auch hier schrumpfen müssen.”
Sehr gute Analyse, die mir aus dem Herzen spricht!
An die Korken!
In dieser Einschätzung darf m.E. auch nicht die Rolle des Handels unterschätzt werden. Und das sage ich als Händler. Wer hat denn erst die restsüßen Primitivo in den Markt gedrückt? Importeure und Handel. Argument ‘der Kunde wollte das so!’ Moment: der Kunde wollte ein Produkt, was er noch gar nicht kannte? Der Handel ist in großen Teil ‘part of the problem’. Es wurde Lugana in den Markt gedrückt, es wurden restsüße Primitivo in den Markt gedrückt. Der x-te ‘Passimento’, Appasimento’, Doppio-Irgendwas. Grauburgunder mit 10g RZ. Alles leicht verständlich, prima zu distribuieren. Da braucht es keine Fach- und Erklärungskompetenz, weder im Regal des LEH, noch im Handel noch in der Gastro, wo zumindest in D sehr viele Mini-Jobber am Start sind. Im Grunde wurde das Kulturgut Wein in weiten Strecken bis zur Unkenntlichkeit profanisiert. Und ich mache mir definitiv große Sorgen über den Aufwand, den wir betreiben müssen, um aus dieser Talsohle wieder heraus zu kommen. Das wird ein long-term-run. Hat die Branche hierfür den Mut und kann sie die entsprechenden Ressourcen bereitstellen (Geld, Zeit, know-how)?