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Peter Sichel lebte in New-York und war der letzte Zeitzeuge des jüdischen Weinhandels an Saar, Mosel und Rhein. Mit seiner Marke „Blue-Nun“ verkaufte er nach dem Krieg Abermillionen Flaschen Liebfrauenmilch in die USA und machte deutschen Wein wieder weltmarktfähig. Wir veröffentlichen ein Interview mit Sichel aus der WELT am SONNTAG aus 2018:
Es klappt nicht. Das mit Skype. Also muss nach drei erfolglosen und abgebrochenen Kommunikationsversuchen das Relikt Festnetztelefon bemüht werden. Auf beiden Seiten des Ozeans.
New York, Manhattan, ein altes Appartement. Peter Sichel klingt erleichtert, dass er nun die Stimme des Gegenübers gut verstehen kann. „Bitte sprechen sie nicht zu schnell“, leitet Sichel das Gespräch ein, „ich verstehe Deutsch sehr gut, aber man muss langsam mit mir reden.“ Es ist Anfang Oktober 2018 und Sichel ist vor wenigen Wochen 96 Jahre alt geworden – eine legendäre Person, die in Deutschland kaum einer kennt.
Dabei hat Peter Sichel für den deutschen Wein viel getan, hat ihn in den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts in den dortigen Supermärkten etabliert. Mit einem Produkt, das die deutschen Winzer, Weinhändler und Weinpuristen am liebsten vergessen würden: mit der Weißweincuvée Liebfrauenmilch, der die Familie Sichel eine eigene Marke kreierte, die „Blue Nun“, die Blaue Nonne, die jährlich Abermillionen-Male auf den Kassenbändern der US-Ketten landete. Ein Wein, ganz das Gegenteil der heute vielgerühmten, deutschen Rieslinge: vordergründig, süßlich, konturlos und gänzlich antiintellektuell. Aber ein Megaseller und auch Botschafter der spießigen Seite der alten Bundesrepublik.
Peter Sichels Vater leitete vor Hitlers Weltenbrand den Weinhandel „H. Sichel & Söhne“ in Mainz – einer der vielen jüdischen Weinhändler an Rhein und Mosel. Die Mutter verstarb früh und der schon alte Vater verfrachtete seinen Sohn zu Beginn der Dreißigerjahre vorausblickend nach London, wo die Firma eine Niederlassung unterhielt. Nach Abschluss der Pflichtschule übersiedelte Peter Sichel nach Bordeaux, wo die Familie mit Weinen aus dem Bordelais handelten. Als die Nazis in Frankreich eimarschierten floh Sichel über Spanien und Portugal in die USA. Er war 19 Jahre alt und einer von tausenden entwurzelten Jugendlichen. Sein Vorteil: Deutschland hatte er nur als Kind kennengelernt, es gab kein großes Vermissen. Die einzige Mitgift seines Geburtslandes war die Sprache.
Wie bekamen Sie Ihren Weinhandel wieder zurück?
Wir bekamen den Weinhandel ziemlich schnell wieder in unsere Hände, denn mein Vater hatte, anders als andere jüdische Weinhändler, die Firma nie verkauft. Er wurde enteignet. Später leitete ein Treuhändler das Unternehmen. Mit dem kamen wir gut zurecht.
Das war dann nach gleich nach dem Krieg?
Ja. Aber es gibt da noch ein Detail: Ich bin ja nicht als Zivilist zurück nach Deutschland gekommen, sondern als Soldat der US-Armee. Ich war dabei, als Mainz und der Rheingau befreit wurden. So kam ich auch nach den Kampfhandlungen gleich an der Firma vorbei und nahm sie erstmal wieder in Besitz, obwohl das damals gar keine rechtliche Grundlage hatte.
Roman Niewodniczanski ist ein Sproß der Bitburger-Geroldsteiner-Getränkedynastie und investiert sein Geld seit bald 20 Jahren in das alte Saar-Weingut Van-Volxem. Als er mit dem Rekonstruieren und Errichten begann, stieß er auf alte Unterlagen aus der Zeit vor dem ersten Weltkrieg. Diese belegen, dass deutsche Rieslinge einst in derselben Preiskategorie wie große Burgunder und große Bordeaux rangierten. Eine Beerenauslese von der Saar kostete gleich viel Geld wie die Kreszenzen des heute teuersten Süßweingutes der Welt: Chateau Yquem.
Niewodniczanski macht seither unermüdlich auf die Bedeutung der jüdischen Weinhändler und Exporteure für die damaligen Weine von Mosel, Saar und Rheingau aufmerksam, er sagt: „Die jüdischen Weinhändler haben den deutschen Wein in England und an der Ostküste berühmt gemacht. Deutschland verdankt den Ruf seiner Rieslinge ausschließlich diesen Leuten.“
Haben Sie dann gleich wieder mit dem Weinhandel begonnen?
Nein, ich blieb nur stiller Teilhaber. Mein Vater war zu Ende des Krieges sehr gebrechlich und hat die Geschäfte meinen Vettern übergeben. Der Weinhandel hat mich nicht interessiert.
Was hat Sie dann interessiert?
Die C.I.A.
Sie waren also Spion?
Ich war ein guter Spion.
Peter Sichel wurde Büroleiter des O.S.S, des späteren C.I.A. In Berlin. Von dort leitete er auch Aktionen gegen die Sowjetunion in der Ukraine. In den 1950er-Jahren schickte ihn der Dienst ins damalig britische Hongkong, um von dort aus Aktionen gegen das kommunistische, chinesische Regime zu planen, bei denen es auch um die Stabilisierung der Koumintang in Taiwan ging
Nach dem Ausscheiden aus dem Staatsdienst haben Sie dann die stille Teilhaberschaft aufgegeben und sind mit Ihren Anteilen aktiv in den Weinhandel der Familie eingestiegen. War es denn nicht schwer, deutsche Weine in den USA und England damals überhaupt verkaufen zu können?Nein. Gar nicht. Denn was wenige wissen: Wir haben deutsche Weine auch während des Krieges in den Staaten gut verkauft. Die Weine hatten eine kleine aber treue Anhängerschaft.
Wie ging das? Es gab ja keinen Nachschub?
Wir hatten volle Lager und die haben wir abgebaut. Das Eigenartige war: Nach dem ersten Weltkrieg hat es gut zehn Jahre gebraucht, um deutsche Weine wieder zu etablieren. Nach dem zweiten Weltkrieg aber gab es kein Problem, gleich wieder mit deutschen Weinen in den USA und England zu handeln.
Wie erklären Sie sich das?
Ich habe darüber auch lange mit meinen Vettern gesprochen, die sich das auch nicht erklären konnten. Wahrscheinlich war es so, dass die amerikanischen und englischen Weintrinker, die gerne deutschen Wein tranken, zwischen den Deutschen als Volk und deutschem Wein unterscheiden wollten.
Der aus dem Staatsdienst hoch dekoriert entlassene Peter Sichel fand bei seinem Einstieg in den Weinhandel eine völlig veränderte, deutsche Weinwirtschaft vor. Statt Klasse zählte nun Masse, die einst teuren Auslese-Rieslinge waren von billigen, aufgezuckerten Plörren verdrängt worden. Aber diese Millionen Hektoliter, meist aus Pfalz und Rheinhessen, so sagt Sichel; sie brachten Möglichkeiten mit sich, die es im deutschen Weinhandel vorher nie gegeben hatte: endlich konnte man auch hierzulande eine weltweit vermarktbare Weinmarke gründen, wie es die Franzosen, die Italiener, ja selbst die kommunistischen Ungarn mit ihrem „Eger-Stierblut“ schon vorgemacht hatten.
Blue-Nun, war das ein Wein, der an die deutschen Rieslinge der Vorkriegszeit erinnern sollte?
Nein, Blue-Nun war ein damals völlig neuer Wein, eine Marke, die eigentlich schon mein Vater aus der Nonne des Wormser Liebfrauenstifts entworfen hatte um wieder auf den englischen Märkten Fuß zu fassen. Riesling war, so weit ich mich erinnern kann, nie dabei. Dafür aber Müller-Thurgau, Sylvaner, Gewürztraminer, Gutedel und andere Sorten.
Also war, anders als erzählt wird, Blue-Nun nicht Ihre Kreation?
Nein, war sie nicht, ich habe die Marke aber etabliert. Blue-Nun war ja erst nach dem zweiten Weltkrieg so richtig erfolgreich. Zuletzt, als ich noch in die Zahlen schaute, verkauften wir jährlich etwa dreißig Millionen Flaschen in alle Welt, auch nach Australien, Japan, ja sogar Skandinavien.
Das ist eine ungeheure Menge Wein. Auch im internationalen Vergleich mit Marken anderer Länder. Und ausgerechnet ein Wein aus Deutschland. Wie das?
Ich glaube, das liegt auch daran, dass die meisten Käufer gar nicht wussten, dass die Blue-Nun ein deutscher Wein ist. Ich denke viele Amerikaner glauben auch heute noch Blue-Nun käme aus Kalifornien.
Während der Aufarbeitung der Nazi-Gräuel kam das Schicksal der jüdischen Weinhändler selten bis nie zur Sprache, obwohl diese für den Welterfolg eines ganzen Berufszweiges verantwortlich waren. Lediglich exportorientierte Winzer wie Manfred Prüm oder Nik Weis an der Mosel interessierten die Wege ihrer einstigen Händler.
Warum, glauben Sie, ist die Geschichte der jüdischen Weinhändler in Deutschland auf keine Beachtung gestoßen.
Nun ja, viele von uns konnten zu Beginn der Nazizeit in die Hauptexportländer auswandern. Auch schon vor den Zwangsverkäufen und den Enteignungen. Wir waren eine privilegierte Gruppe mit internationalen Kontakten und ich bin heute der letzte Überlebende des jüdischen Weinhandels in Deutschland. Aber eher noch Zeitzeuge des Nachkriegserfolges.
Die Marke Blue-Nun hat an Verkaufszahlen eingebüßt, doch der auch weiterhin in Deutschland produzierte Wein drängt seit einigen Jahren auf die Bühnen der Pop-Kultur, wird bei Emmy- und Grammy-Verleihungen ausgeschenkt und von Vertretern der Rapper-Szene in die Kameras gehalten. Peter Sichel übersiedelte bald nach seiner C.I.A.-Zeit wieder nach Frankreich, wo er mehrere namhafte Weingüter im Bordelais leitete. Sein Fluchtort New-York ist ihm nun letzte Heimat geworden; eine Heimat, die der gebürtige Deutsche in Deutschland nie finden konnte.
Trinken Sie heute noch deutsche Weine?
Ich trinke nicht mehr so viel Weine wie früher. Und wenn, dann meistens gute Weine aus Frankreich und die Weine meiner Tochter, die ein Weingut in Kalifornien besitzt. In meinem Alter muss man vor allem auf die Gesundheit achten, Bewegung machen und im Kopf fit bleiben.
Das letzte Telefonat mit Peter Sichel fand Mitte November 2018 statt. Er wies darauf hin, dass er sich in wenigen Tagen einer Herzoperation unterziehen müsste und erst dann dazu bereit wäre, auch den Fotografen der Welt am Sonntag zu empfangen. Danach aber blieben die Leitungen still. Wir haben den Kontakt zu Peter Sichel, den letzten Überlebenden des deutschen, jüdischen Weinhandels verloren.